Klack, klack-klack, klack ... - . Unberührt vom Raunen und Wispern der Stimmen, durch lange Reihen skulpturierter Säulen dem Dröhnen des Straßenverkehrs entrückt, läßt eine betagte Dame mit gichtverkrümmten Fingern erneut die Holzscheibchen zu Boden fallen: - Klack. - Kein Glück!! - Die altersgelben, abgegriffenen Halbmonde sind diesmal beide auf der flachen Unterseite gelandet. - "Kein Glück, kein Glück, - die Götter stimmen nicht zu!". Wie hohnvolles Gelächter der Unsterblichen signalisieren die altüberlieferten Yin-Yang Symbole die Antwort, während die Frau mit enttäuschtem Gesicht und hoffnungsleeren Augen auf den feuchtkalten Tempelboden herniederblickt.
Voll inbrünstigen Bitten neigt sich die Frau vor den in prunkvolle Brokatgewänder gehüllten Tempelgöttern, wippen die ehrfurchtsvoll vor die Stirn erhobenen Räucherstäbchen zwei-, dreimal auf und ab, während die dichten Schwaden des Weihrauchs sich wie graue Schlangen zur verrußten Decke des Säulengangs emporringeln. Die brennenden Räucherstäbchen in der Linken, bückt sie sich mühsam, - klaubt mit zitternden Fingern die Orakelhölzer vom Boden, hält einen bangen Augenblick wie zögernd inne, um sie sodann erneut auf die speckigen Steinfliesen niederfallen zu lassen.
Ein kurzer Fall, - spannungsgeladene Stille: - Klack! - Wieder kein Glück!! Während die hölzernen Halbmonde am Boden wippen, signalisieren die flachen Oberseiten erneut Verneinung, gilt doch einzig ein ausgewogener Wurf "eins oben - eins unten" als Segen und Zuspruch der Götter, welcher dem unausgesprochenen Herzenswunsche Glück verheißt.
"Mehr Weihrauch? - Ein Wechsel der Anrufungsformel??". Entschlossenheit und Ausdauer beseelen den Körper der Frau, verleihen der zerbrechlich wirkenden Gestalt ein fast jugendliches Aussehen, während die gesteigerte Frequenz der rhythmisch-wippenden Verbeugungen das festgefaßte Weihrauchbündel höherbrennen läßt, bis sich die Konturen der Opfernden vor dem Altar in einem bläulichweißen Schleier von Rauchnebel aufzulösen scheinen.
Klack-klack ... , - da liegen sie! In letzter Instanz haben die Götter sich offensichtlich eines Besseren besonnen, sind Dank der helfenden Hand der Mächte im Verborgenen die halbmondförmigen "Orakelbohnen" doch noch in der rechten Kombination gefallen. Einen Pulsschlag des Herzens hält die Betende gedankenverloren inne, dann aber kniet sie nieder und beginnt unverzüglich einen neuen Zyklus von Verbeugungen, neigt sich voll Andacht und Dankbarkeit so tief, daß ihre faltenzerfurchte Stirn die Steinplatten des Tempelbodens berührt. Mühsam und zittrig - fast meinte man im verräucherten Dämmerlicht des Tempels ein arthritisches Knacken der alterssteifen Gelenke zu vernehmen - erhebt sich schließlich die zusammengesunkene Gestalt, bewegt sich still vom Altar hinweg und räumt die freie Fläche vor dem gewaltigen rotumrahmten Säulenportal für den scheu und zögernd nähertetenden Besucher, der mit neugierigem Auge - gleichsam im Vorübergehen - einen flüchtigen Blick auf den Altar zu erhaschen sucht.
Im lnnern des Altarraums eröffnet sich ein Panorama, das sich jedem, der es einmal gewahrt hat, unauslöschlich in die Erinnerung einprägt und in dieser Art für buddhistische wie taoistische Tempel der Insel gleichermaßen typisch ist: - hinter einem mit brennenden Kerzen, duftendem Räucherwerk und verlockend arrangierten Früchten besetzten Opfertisch erhebt sich - flankiert von farbenprächtig bestickten Tempelbannern - die massige Gestalt einer der zahlreichen Gottheiten des Lung-Shan Tempels (龍山寺). Hier, jenseits einer das Kerzenlicht matt reflektierenden Trennscheibe aus Fensterglas, die wie eine schützende Membran den sakralen Bereich vom irdischen Staub der Menschenwelt absiegelt, befindet sich das Zentrum der Hingabe und Verehrung. Die unergründlichen Augen der mächtigen Statue blicken halb kritisch, halb besänftigend auf die Opfernden herab.
Die Gottheit und ihr Gefolge sind durchwegs im Stil der Kaiserzeit gewandet: - die in allen Farben des Regenbogens schillernden Gewänder tragen Symbole und Insignien geistlicher und weltlicher Macht, während Beamtenhüte der unterschiedlichsten Formen, Materialien und Farben genaue Auskunft über Rang und Status des betreffenden Idols verleihen. - Indifferent oder anteilnehmend, beseelt oder unbeseelt? - Kein Zucken der Lippen, kein noch so unmerkliches Nicken des Kopfes böte auch nur den kleinsten Hinweis auf Zorn oder Überschwang, Zustimmung oder Mißbilligung des Gottes; und dennoch erscheint es beim längeren Betrachten, als wohnte den weltentrückten Zügen der Statue ein Leben inne, während die graugelben Rauchschwaden des vom Opfertisch emporsteigenden Weihrauchs in sanften Wellen über die polierte Oberfläche des rauchdunklen Holzes dahinstreichen.
Trotz des allgegenwärtigen hektischen Gedrängels in den Wandelgängen, der zahllosen Stimmen und Geräusche und des anonymen Gewimmels der im Umlauf der Tageszeiten gezeitenartig in das mauerumfriedete Geviert des Tempels strömenden Leiber und Gesichter, ist hier im Lung-Shan Tempel(龍山寺), wie auch anderswo, der stumme Dialog zwischen Gottheit und Anrufer in erster Linie Privat- oder Familiensache. In einer Andachtsstätte, welche, außer zu speziellen Feiertagen, keine regelmäßig abgehaltenen Gebetszeremonien kennt, drängen Tag und Nacht, ja rund um die Uhr Menschen der verschiedensten Berufs- und Altersgruppen in den Tempel, um zu opfern, fürzubitten und zu danken, - um in diesem Hafen der Ruhe Zuflucht zu suchen vor Hitze, Wind und Regen, vor Lärm, Staub und Hektik der ewig betriebsamen Altstadtgassen, um zu vespern, ein Schwätzchen zu halten oder auch nur in einem Augenblick der Muße das bunte Treiben zu beobachten und die ganz spezielle Atmosphäre dieses Ortes auf sich einwirken zu lassen.
Jenseits der Ebene des gesprochenen Wortes, des Wirrwarrs der Geräusche und des Widerhalls der Stimmen, spricht der alte Tempel selbst seine besondere und unverwechselbare Sprache, findet sich an Säulen, Wänden und Dächern in Form von Schnitzereien, Bildern und Skulpturen die gesammelte Überlieferung vergangener Jahrhunderte. Gemeißelte Inschriften, Kalligraphien und Spruchbänder künden voll Stolz von Heldentaten der Götter und Kulturheroen, gemahnen in kunstvoll gestalteten Lettern zur Einhaltung des alterprobten Mittelmaßes von Anstand und Sitte. Von buntgefiederten Phönixen und schuppig sich windenden Drachen hoch oben auf Giebeln und Graten der Dächer über die zahllosen Friese, Malereien und Halbreliefs an Balkenwerk und Säulen bis hin zu den symbolischen Blumen und Vögeln ganz unten an den Steinsockeln der Mauern bietet die organisch gewachsene Struktur des Tempels nicht allein ein repräsentatives Panorama des religiösen Pantheons, sondern repräsentiert zugleich in ihrer Gesamtheit ein getreues Abbild der gesammelten Lebenserfahrung einer alten Kultur.
Epische Helden und Kulturheroen, Philosophen, heilige Männer und Sagengestalten: - hier an Säulen, Wänden und Balkenwerk des Lung-Shan Tempels sind sie alle versammelt. Kaiser, Könige und Beamte, Generäle, Fußsoldaten und bärtige Türhüter: - auch der sakrale Bereich ist - wie könnte es anders sein - als Spiegel der Menschenwelt in festumrissene Herrschafts- und Einflußsphären gegliedert. Doch bedeutet diese scheinbar ach so festgefügte Hierarchie ganz im Gegensatz zu ihrem martialischen Gepräge nicht etwa Exklusivität und Strenge, - nein, die Gemeinschaft der Götter und Genien ist eine offene, wandlungsfähige Gesellschaft, welche - gleich den Bewohnern der Insel - fremden Einflüssen und dem Reiz des von jenseits des Ozeans herübergelangten Neuen mit Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenübersteht.
In der Form seiner architektonischen Anlage wie auch im Geiste ist der Lung-Shan Tempel ein Ort der Offenheit, empfängt sein lampiongeschmücktes Eingangstor gleichermaßen Alt und Jung, Gläubige wie schaulustige Besucher, beherbergen seine Altäre, Dachvorsprünge und Mauernischen Gottheiten des Buddhismus, des Taoismus und der Volksreligion. Religion auf Taiwan ist in erster Linie ein Erlebnis der Sinne, - nur wer das Schlagen der Gongs, den Duft des Weihrauchs, den Schimmer der Kerzen, den Trance induzierenden Singsang der endlosen Litaneien auch körperlich erlebt hat, vermag einen unmittelbaren Eindruck von der unbeschreiblichen Formenfülle, den feinen Nuancierungen des Lokalkolorits, der emotionellen Ausdruckskraft der hier vorherrschenden spontan erlebten Religiosität zu gewinnen. Heute wie in vergangenen Tagen ist Religion für einen Großteil der Bevölkerung unmittelbarer Ausdruck des Herzens, ist der wie auch immer geführte Dialog mit der Gottheit nicht zum bloßen Formalismus erstarrt. Ungehemmt von Einmischungen des Staats, frei von den Ängsten einer Limitierung oder einer Beschneidung, wie sie nur ein paar Kilometer weiter über der Taiwanstraße zu finden sind, leben die überlieferten Glaubensinhalte unbeschränkt weiter.
Mag auch aus der Perspektive der in einem ähnlichen Reifungsprozeß herangewachsenen Hochreligionen der auf der Insel vorherrschende Synkretismus und Polytheismus als eine primitive Vorstufe "wahrer Spiritualität" erscheinen, so ist doch gerade die hier vorherrschende Verquickung von Religiosität und Alltagsleben, - die Allgegenwart, leichte Ansprechbarkeit und universelle Zuständigkeit der durchwegs anthropomorph begriffenen Götter, Ausdruck einer bewundernswürdigen Vitalität und Lebenskraft. Diese hier und jetzt dem pulsierenden Herzen der Menschen innewohnende Empfindungen sind Garanten für das freie Fortbestehen der Religion in unserer Zeit.